Untrennbar mit dem Kombinat FORTSCHRITT sind der Name und das Wirken seines Generaldirektors Dr. rer. oec. Bernhard Thieme verbunden, zählt er doch zu den herausragendsten Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte unserer Stadt.
Schon wenige Tage nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes Bernhard siedelte die Familie Thieme von Sebnitz nach Neustadt um. Hier genoss der strebsame Bernhard eine bürgerliche Erziehung, besuchte die Volks- und Mittelschule und begann im benachbarten Hering-Werk eine kaufmännische Lehre. Als wacher Geist hat er sicherlich die Rüstungsproduktion, die HJ-Aktivitäten und die Zwangsarbeiterschicksale in seinem Ausbildungsbetrieb kritisch hinterfragt, dennoch weit entfernt, ein Widerstandskämpfer zu sein. Wie viele mit ihm war er heilfroh, dass das Hering-Werk ohne größere Zerstörungen über das apokalyptische Kriegsende in Neustadt gekommen war.
Doch von August bis Dezember 1945 schlug die Reparationskommission der Roten Armee zu und ließ die Werkhallen leerräumen. Mit großem Elan, Organisationstalent und Opferbereitschaft ging eine kleine Gruppe um den kaufmännischen Leiter Bernhard Thieme an den Wiederaufbau des nunmehrigen Treuhandbetriebes. Es wurde produziert, was gebraucht wurde, vom Kochtopf über Heizöfen und Jauchepumpen bis zum Häufelpflug. Erste Arbeitsplätze für eine Friedensproduktion wurden geschaffen.
Als 1949 aus dem bisherigen Hering-Werk Neustadt und der verstaatlichten Klingner-Dreschmaschinenfabrik Stolpen der VEB Herkuleswerke Neustadt gebildet wurde, setzte man den erst 23-jährigen Bernhard als Werkleiter ein. Mit der dramatischen Gründung des Kombinates Fortschritt am 2. Mai 1951 in Singwitz wurden der Sitz der Kombinatsleitung in Neustadt und Bernhard Thieme als Kombinatsdirektor festgelegt. Von 1958 bis 1963 leitete er als Generaldirektor sogar die VVB Landtechnik in Leipzig. Es war ein Segen für unsere Stadt, dass er von 1964 bis 1981 als Kombinats- und später als Generaldirektor des Kombinates Fortschritt nach Neustadt zurückkehrte.
In dieser Zeit sind ihm sowohl in der Entwicklung des Kombinates als auch der Stadt Neustadt und ganz Ostsachsens perspektivische Weichenstellungen gelungen, von denen wir noch heute zehren. Beispielhaft war ab 1951 die bewusste Herausbildung der Stadt Neustadt als einen industriellen Schwerpunkt, um so den Wiederaufbau des Stadtzentrums und ab 1954 einen zügigen Wohnungsbau u. a. an der August-Bebel-Straße, der Hohwaldstraße in Langburkersdorf, dem Friedenseck, am Bruno-Dietze-Ring sowie an der Friedrich-Engels-, Maxim-Gorki- und Heinrich-Heine-Straße zu sichern. Mit dem Wohnungsbau gingen u. a. der Bau zahlreicher Kindertagestätten, der Wilhelm-Pieck- und der Maxim-Gorki-Schule, der Mittelschule Polenz, von zwei HO-Kaufhallen, der FORTSCHRITT-Betriebspoliklinik, die Sanierung des Krankenhauses, des Kreiskulturhauses und des Feierabendheimes in der Erberstraße einher. Es folgten das Stadion der Landmaschinenbauer, der Plastik-Skihang in Rugiswalde und die Sanierung des Freibadesees. Die zahlreichen Kultur- und Sportgruppen erfreuten sich einer bemerkenswerten Förderung durch das Kombinat. Gleichwohl hinterlässt die politisch erzwungene Bauunterbrechung für die Volksschwimmhalle, einem Lieblingsprojekt von Bernhard Thieme, noch immer einen bitteren Beigeschmack.
Hinsichtlich seiner wirtschaftspolitischen und wissenschaftlichen Pionierleistungen sei an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung in der Neustadt-Chronik verwiesen.
Wie erklären sich nun die anerkannten Leistungen unseres Mitbürgers Bernhard Thieme?
Es mag für ihn tatsächlich ein ausgesprochener Stolz auf seine Neustädter Heimat gewesen sein, die er als weltgewandter Manager nie aus den Augen verlor. Das spürte man in seinem Umgang mit Geschäftspartnern und Gästen. Häufig konnte man in seinen Standortentscheidungen einen demonstrativen Trotz ablesen, um so die überdurchschnittliche Förderung von Berlin und Dresden zu relativieren. Nie ist es seinen regionalen und zentralen Neidern gelungen, trotz aller Bemühungen den Kombinatssitz von Neustadt nach Bautzen oder nach Dresden zu verlegen.
Sehr früh hat er die Mechanismen des Marktes auch für die Planwirtschaft erkannt. Nicht ohne Grund hat ihn die Moskauer Prawda, immerhin das Zentralorgan der KPdSU, als den „roten Manager“ tituliert.
Die Entwicklung des Kombinates FORTSCHRITT hing von 1951 bis 1981 ganz wesentlich von der Persönlichkeit des Kombinats- und späteren Generaldirektors Bernhard Thieme ab, von seinen volkswirtschaftlichen und unternehmerischen Visionen, seinem strategischen und komplexen Denken, seiner beeindruckenden Allgemeinbildung und Lebenserfahrung, seinem ökonomischen Sachverstand, seinem taktischen Geschick im Umgang mit den Granden der Partei- und Staatsführungen der DDR, im RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) und in der UdSSR sowie mit Vertretern westlicher Konzerne, nicht zuletzt von seinem durchaus ausgeprägten Machtbewusstsein, seinem Durchsetzungsvermögen und seiner Überzeugungskraft. Dass er offensichtlich nicht immer die realen Machtverhältnisse richtig eingeschätzt hat, belegen seine beiden Abberufungen 1963 und1981.
Als Dr. Bernhard Thieme mit seinen Vorschlägen, die zentrale Planwirtschaft durch eine erhöhte Eigenverantwortung der Kombinate zu reformieren und den Exportkombinaten die Außenhandelskompetenz zu übertragen, die Wirtschaftsdogmatiker in der Berliner Zentrale herausforderte, beendeten diese abrupt 1981 seine FORTSCHRITT-Ära. Angesichts dieser Abberufung sah er sich ganz offensichtlich und nicht zu Unrecht um sein Lebenswerk gebracht. Diese Widersprüche konnten selbst eine Berufung zum Universitätsdozenten nicht ausgleichen und führten schließlich zum tragischen Ausscheiden aus dem Leben am 20. April 1982.
Beschämend bleibt das durch zentrale Organe der SED und der DDR verordnete Totschweigen der Verdienste von Dr. Bernhard Thieme. Weder ein Nachruf der Kombinats-, Partei- und Gewerkschaftsleitung noch eine Würdigung dieser Verdienste anlässlich des 650. Stadtjubiläums im Jahr 1983 waren erwünscht. Die kurzzeitige Namensverleihung der Volksschwimmhalle als „Schwimmhalle Dr. Bernhard Thieme“, die Dr.-Bernhard-Thieme-Straße, zwei Erinnerungstafeln in der Stadt und eine private, aber öffentliche Gedenkstätte sind ein kleiner Beitrag zur Würdigung seiner Verdienste.
Dr. Gerhard Brendler